Das Kung Fu, wie es heute geübt wird, blickt auf eine verworrene Vergangenheit voller verschiedenster religiöser und weltlicher Einflüsse zurück. Es ranken sich Mythen und Legenden um diese Kampfkünste, die die Enträtselung der Geschichte genauso erschweren, wie der starke Drang der Familien, ihre Technik aus Angst vor Missbrauch geheim zu halten.
Die Ursprünge der Kampfkünste zu erforschen kann aufgrund der spärlichen Fakten, die uns die Zeit hinterlassen hat, nur Spekulation bleiben, und so verliert sich auch die Geschichte des Kung Fu in Legenden.
Es ist bekannt, dass schon in der Epoche der Chou (1122 – 256 v. u. Z.) der Brauch vom Zweikampf ohne Waffen (Xiangpu) existierte. Daneben gab es auch die alte Ringkampfkunst Juedi. Es ist daher recht wahrscheinlich, dass zu dieser Zeit bereits eine entwickelte Form des Kämpfens existierte. Belegt wird dies auch durch Vasen aus der Zeit um 1000 v. u. Z., auf denen Faustkampftechniken dargestellt sind. Dies ist auch die Zeit, in der es, historischen Funden zufolge, in China das erste Mal zu einer Art „Massenproduktion“ von Schwertern kam, die damals aus Bronze geschmiedet wurden.
In der darauf folgenden Dynastie der Chin (221 – 206 v. u. Z.) ist ein kampfähnliches Spiel namens Jaoli (Jiaoti) unter den Militärs sehr verbreitet gewesen. Zu dieser Zeit machten auch viele Räuber und Banditen, vergleichbar mit den Ronin, den herrenlosen Samurai in Japan, das Land unsicher. Es ist daher anzunehmen, dass sich reisende Kaufleute eine Leibwache hielten, die sich auf das Kämpfen verstand.
Die ältesten schriftlichen Dokumente über Kampfkünste stammen ebenfalls aus dieser Zeit, und zwar das Buch der Riten, auch „Siebenerbuch“ genannt, und der Klassiker schlechthin: „Die Kunst des Krieges“ von Sunzi eines hervorragenden Heerführers und Taktikers. Bis Ende des 19. Jahrhunderts galt sein Werk nicht nur in China als das wichtigste Werk über Strategie und Taktik überhaupt.
Weitere schriftliche Dokumente u. Z. vor, wobei diese sehr dürftig sind. Hierunter sind auch die Aufzeichnungen des Arztes Hua Tuo, welcher zur Zeit der „Drei Königreiche“ (220 – 265 u. Z.) lebte. Von ihm existieren Aufzeichnungen über einen Übungsform namens Wuquinshu (Kunst der fünf Tiere), die zur Gesund- Erhaltung des Körpers dienen sollte und sich aus Bewegungselementen von Tiger, Bär, Affe, Storch und Hirsch zusammensetzt.
Allgemein anerkannt ist, dass das heutige Kung Fu auf das Tempelboxen des legendären Shaolin-Klosters zurückgeht. In Nordchina, südlich der alten Hauptstadt Luoyang, breitet sich das Bergmassiv Haoshan, das Zentralgebirge aus. In den verworrenen Zeiten der Periode der Drei Teiche Wie, Shu, und Wu zu Beginn des dritten Jahrhunderts fand dort eine Gruppe buddhistischer Mönche Zuflucht.
Nachdem sie sich auf dem unzugänglichen Berg Song niedergelassen hatten, begannen sie, hier im Bezirk Denfeng (Den Fong) der Provinz Loyang (heute: Henan) das Königreiches Wie eine Klosterfestung zu bauen, die ihre Klostergemeinschaft von den Truppen der Feudalherren und den im Land umherschweifenden Räubern schützen sollte. Nachdem sie mit Hilfe von Bauern einen Tempel gebaut hatten, der von massiven Steinmauern umgeben war, bepflanzten sie den Berggipfel mit jungen Kiefern, die mit der Zeit einen zuverlässigen Schutz gegen den Wind gaben. Das Kloster erhielt den Namen Shaolin – „junger Wald“.
Budhidharma gilt als Vater
Sicher datieren und verfolgen kann man die Entwicklung erst ab dem Erscheinen Bodhidharmas, des dritten Sohnes des Rajas Sugandha, geboren um 470 u. Z. in Kanchipuram (Conjeevaram) bei Madras in Südindien. In China nannte man ihn (Puti-) Damo und in Japan ist er unter dem Namen (Bodai-) Daruma bekannt. Er gilt als Vater des Kung fu und wird unter den Buddhisten als erster Patriarch des chinesischen Chan, aus dem sich der Zen-Buddhismus entwickelt hat, und als 28. Nachfolger Buddhas in der indischen Linie verehrt.
Damo verbreitete, einer Legende zufolge nach neun Jahren der Meditation in einer Höhle oberhalb des Klosters, sein auf sehr starker Körper und geistiger Konzentration beruhendes System, welches nahe Verwandtschaft mit dem indischen Yoga aufwies. Wie er aber bald feststellen sollte, waren seine Schüler nicht in der Lage, seine Übungen nachzuvollziehen, und schliefen oft dabei ein. Damo folgte, dass vielleicht die sitzenden Stellungen dazu beitrugen, und entwickelte so ein System von 18 Bewegungen und 24 Muskelspielen, welches dazu diente, die Atemwege und die allgemeine Kondition zu verbessern. Er nannte es „Lohan shi ba shou“ („die 18 Hände der Archeten“). Wie am Namen zu sehen, sind die Stellungen denen der Skulpturen und Fresken der Archaten (Erhabenen) in den buddhistischen Tempel Indiens nachempfunden. Es sind Bewegungen des Yoga, des indischen Kriegstanzes sowie der indischen kampfkunst Bajramushti, walche Damo als Sohn aus fürstlichem Geschlecht und als Angehöriger der Kshatri („die mit Macht Ausgestatteten“), der indischen Kriegerkaste, perfekt beherrschte.
Nach Damos Tod gingen seine Schüler auseinander, und das System der 18 Hände und 24 Muskelspiele geriet lange Zeit fast in Vergessenheit. Am kaiserlichen Hof der Tang-Dynastie (618 – 907 u. Z.) wurden die Kampfkünste zwar sehr verehrt, und es fanden zahlreiche Vergleichskämpfe statt, die mit dem Erwerb grosser Ehrentitel und hoher militärischer Posten belohnt wurden, im Shaolin jedoch schien die Entwicklung stehen zu bleiben.
Wieder belebt wurde das Shaolin-Boxen erst von einem chinesischem Kämpfer namens Yen, der in den Priesterstand trat und von da an den Mönchsnamen Zhue Yuen trug. Gegen Ende der Yüan-Dynastie war das Land von innerer Unruhen erschüttert, in deren Verlauf sich auch Überfälle auf die Shaolin-Klöster häuften und die Mönche sich wieder mehr dem Kämpfen widmeten. Zhue Yuen stellte fest, dass das bisherige Shaolin-Boxen sehr viel äussere Energie erforderte und der Kampf durch kraft gegen kraft entschieden wurde.
Daraufhin veränderte er die Bewegungen mit dem Ziel, eine ausgeglichener Einheit zwischen innerer und äusserer Energie zu erhalten. Hierzu erweiterte er das System Damos auf vorerst 72 Bewegungen, wobei er den Schwerpunkt der Techniken besonders auf die schmerzempfindlichen Gelenkbindungen richtete. Die von Zhue Yuen ausgearbeiteten Bewegungen bildeten einen besonderen Abschnitt im Shaolin-Kung Fu, welcher sich schnell verbreitete. Trotz seines Erfolges war Zhue Yuen noch unzufrieden. Also verliess er das Kloster und ging auf Reisen, um andere Meister zu finden, die ihm bei seiner Erneuerungsbestrebungen behilflich sein könnten. So trag er dann in einer Kleinstadt der Provinz Liangzhou auf einen 60 Jahre alten Händler namens Li Chieng, der sich als grosser Meister der Kampfkunst entpuppte. Dieser wiederum führte ihn zu einem Meister namens Bai Yufeng aus der Provinz Shensi.
Fünf Tiere wurden geboren
Zu dritt erweiterten sie das System der 72 Bewegungen auf diesmal 170, bei denen hohe Stellungen, Fusstritte und relativ schnellen Bewegungen dominierten. Nach dem Vorbild Hua Tuos unterteilten sie die Bewegungen, je nach Herkunft, in fünf verschiedene Tierstile: Drache, Tiger, Leopard, Schlange und Kranich – zusammengefasst unter dem Namen „Die Kunst der fünf geformten Fäuste des Siu Lum“. Bei allen Tierstilen verfolgte man konsequent die Idee der Vereinigung vom harten mit dem Sanften, vom nachgeben mit dem Zuschlagen. Ein gänzlich neues Shaolin-Kung Fu war geboren.
Dieses System war jedoch mehr als eine blosse Nachahmung von Bewegungen, die man den Tieren abgeschaut hatte, wie es oft behauptet wird, denn wer hat z. B. schon mal einen Drachen kämpfen sehen? Dieses System sollte vielmehr bestimmte, den Tieren nachgesagte Eigenschaften wie Energieeinsatz, Emotionen und Charakter verkörpern, die es zu erlernen galt.
Andere Stile entstanden
Neben dem Shaolin-Kung Fu entwickelten sich aber auch andere Stile wie z. b. das Changquan des Wushu Meisters und Heerführers Guo Yi. Dieses System bestand aus 32 auf der Basis des Shaolin-Kung Fu erdachten Kampfstellungen und war für die Armee bestimmt. Es passte die komplizierten Klosterübungen an die realen Möglichkeiten eines mittelmässigen Soldaten an und zeichnete sich durch heftige geradlinige Vorwärtsbewegungen und durchdringende Schläge und Tritte in einer begrenzten Anzahl von Kombinationen aus. Das Changquan erfreute sich dank seiner Einfachheit auch unter den Adligen und der allgemeinen Bevölkerung grosser Beliebtheit. In ganz China entstanden Kampfkunstschulen, die ihre Fähigkeiten öffentlich zur Schau stellten.
Während der von kriegerischen Auseinandersetzungen gezeichneten Ming-Dynastie (1368 – 1644 u. Z.) wurde im Shaolin Neben dem traditionellen Stock auch der Gebrauch anderer Waffen wie z. B. Speer, Säbel, Schwert, Hellebarde und Dreistock gelehrt. Zu diesem Zweck luden die Mönche berühmte Meister ein, die ihre Fähigkeiten demonstrieren und ihre Geschicklichkeit und Erfahrung vermittelten. Es entstand eine ganz neue Qualität des Shaolin-Boxens.
Dieses System verbreitete sich sehr schnell auch unter den anderen Shaolin-Klöstern (Wu Tang, Fu Kein, Kwang Tung und Ngo Mei Shaolin) und wurde dort weiter verfeinert, beispielsweise in ein nördliches „Beiauan“ und ein südliches „Nanquan“. Dabei gilt als geographische Grenze die natürliche Wasserscheide des Changjiang. Der markanteste Unterschied zwischen diesen beiden Stilen wird durch ein chinesisches Sprichwort recht gut veranschaulicht, es lautet: „Nördlicher Bein, südliche Faust“
Bruderschaften wurden gegründet
Nach dem Sturz des Ming-Dynastie durch Manzhu-Tataren 1644 kam es zu erneuten Unruhen, in deren Verlauf die Shaolin-Klöster des öfteren als Zufluchtsstätten für Aufständische dienten. Das Ausüben von Kampfkünsten war der Bevölkerung unter Strafandrohung verboten. Viele Patrioten schlossen sich zu Geheimbünden zusammen und kamen in die Klöster, um Kung Fu zu erlernen und sich dann den Manzhu-Tataren entgegenstellen zu können. Dies ist die Gründungszeit von Bruderschaften wie „Weisser Lotus“, „Weisse Lilie“ oder „Bagua“.
Sie Ausbildung in den Klöstern setzte aber zunächst einmal eine langwierige Schulung des Qi voraus. Die Mönche waren sich darüber im Klaren, dass eine solch lange Ausbildung für diese patriotischen Freiheitskämpfer nicht in Frage kam. So ersetzte man die Bauchatmung durch die Lungenatmung, welche zwar kurzfristig sehr effektiv und kraftvoll ist, aber auch künstlich und falsch. Zusätzlich wurden noch die schwierigen Ausweichtechniken, welche viel Konzentration und Gleichgewicht verlangen, durch harte Blocks ersetzt,. Das Studium von 12 bis 15 Jahren konnte nun auf drei Jahre verkürzt werden.
Als Guang Xi, der Kaiser der Munzhus (Qung-Dynastie, 1644 – 1911) von der Verschwörung erfuhr, erklärte er dem Kloster den Krieg. So wurde Shaolin im Jahre 1723 durch kaiserliche Truppen trotz heftigem Widerstand dem Erdboden gleichgemacht. Der Legende nach sind nur fünf Mönche mit dem Namen Funk do Tak, Gee Sin, Mee Hin, Hg Mui und Pak Mee dem
1727 verbot Keiser Yong Chen das Ausüben von Kampfkünsten, da er Angst hatte, dass hinter dem Mauern der Tempel Geheimarmeen gegen ihn ausgebildet würden. Dass die Gefahr nicht vom Kloster, sonder von einer anderen Seite ausging, dass sollte die Herrschenden 1900 bei so genannten Boxeraustand merken, als plötzlich Geheimbünde wie „Weisser Lotus“, „Weiser Lilie“, „Bagua“, „Die schwarze Flagge“ und „Fäuste der rechtmässigen Harmonie“, im Westen besser unten dem Namen „Die Boxer“ bekannt, die Welt mit ihrer unerschrockenen Kampfweise in Schrecken versetzten. Hier war schon zu sehen, welch eine enorme Verbreitung das Kung Fu auch unter der Bevölkerung gefunden hatte. Allerdings waren sie gegen die Kanonen der westlichen Verbündeten des Kaiserhauses machtlos.
Die ersten Turniere
1928 gab es das erste offizielle Vergleichsturnier, bei dem sich die inzwischen recht vielfältigen Stile messen konnten. 1928 war aber nicht nur das Jahr der positiven Entwicklungen, es war auch das Jahr, in dem das Shaolin-Kloster wieder einmal angezündet wurde und alle alten Dokumente, einschliesslich deren, die Aufschluss über den genauen geschichtlichen Hergang des Kung Fu hätten geben können, ein Taub der Flammen wurden. Eines der wenigen noch erhaltenen Dokumente ist die Wandmalerei in der Baiyi-Halle des Klosters. Es zeigt 34 kämpfende Mönche, die im Hof des Klosters Partnerübungen ausführen. Zu sehen sind Schlag-, Block- und Hebeltechniken sowie „Klebende Hände“.
Den letzten grossen Rückschritt musste die chinesische Kampfkunst 1965 mit dem Beginn der Kulturrevolution unter Mao Zedong hinnehmen, als dieser das Ausüben aller Kampfkünste verbot, und viele Meister nach Taiwan, Singapur und Hongkong emigrieren mussten.
Da sich dieses Verbot jedoch nicht gänzlich durchsetzen liess, versuchte man den Geist der Kampfkünste zu ändern und „dem Tiger die Krallen zu stutzen“. Die Kampfkünste wurden unter staatlicher Kontrolle „vereinigt“. Kämpferische, effektive Techniken wurden durch akrobatische Bewegungen mit künstlerischem Wert ersetzt. Das moderne chinesische Kung Fu wurde von einer Kriegskunst zu einem Wettkampfsport.
Die einzige unter Mao nicht verbotene Kunst war das Taijiquan, welches nicht als Kampfkunst, sondern als Gesundheitsgymnastik angesehen wurde. Um aber ganz sicher zu gehen, war auch hier nur die 1956 von 108 auf 24 Bewegungsformen gekürzten und modifizierten Fassungen des alten Yang Taijiquan erlaubt – die „Peking-Form“. Sie ist die heute wohl meistverbreitete Taijiquan-Form überhaupt.
Das Taijiquan gilt übrigens als eine der wenigen Kampfkünste, die sich unabhängig vom Shaolin entwickelt haben sollen. Aber es gibt auch hier Berichte, dass des als Urvater der „inneren“ Stile geltende Zhang Sanfeng, ebenfalls eine sehr sagenumwitterte Figur, auch einige Zeit im Shaolin-Kung Fu unterrichtet worden ist, bevor der Mitte des 12. Jahrhunderts im daoistischen Tempel der „Weissen Wolke“ südlich von Beijing (Peking) einen eigenen und prinzipiell völlig neuen Stil, „Vögel und Schlange“ genannt, schuf.
Später übersiedelte er in eine Höhle in den Wudang-Bergen der Provinz Hebei. Von dort aus lehrte er seine Schule, die später in mehrere zweige zerfiel. Das gesamte System erhielt den Namen Wudangpai – der Stil vom Berg Wudang. Aus ihm sollen sich die wichtigsten Schulen der „inneren“ Richtung (Taijiquan, Xingyiquan, Baguazhang) entwickelt haben.
Trotz vieler Niederschläge überlebte die chinesische Kampfkunst und ist heute populärer denn je. Es existieren, verschiedene Kung Fu-Stile, und sie alle entstanden durch diese geschichtliche Entwicklung und wurden von ihr geprägt.
Im Zeitalter moderner Feuerwaffen hat das Kung Fu als Kriegskunst an Bedeutung verloren, es wird heute mehr unter der Bezeichnung Kampfkunst geführt. So dient das Kung Fu heute der Fitness, der Selbstverteidigung und nicht zu letzt für körperliche Gesundheit.
Das Wort „Sport“ (lat.: se deportare = sich belustigen, ergötzen) ist eine Bezeichnung, die das Wesen und den tieferen Inhalt des Kung Fu nicht widerzuspiegeln vermag. Zu oft wird heute vergessen, dass es sich bei Kung Fu um die Kunst und die Geschicklichkeit des Kämpfens, erworben in harter Arbeit, handelt und dass die kämpferischen Tugenden genauso wichtig sind wie die Vollendung der Technik. Es ist ein Lebensweg!